Eine ausgestorbene Gemeinschaftsart?
Über „Familie“ hab ich früher nie nachgedacht. Also ‚früher‘ meint zu der Zeit, als ich zu Hause bei Eltern und Geschwistern lebte. Familie war einfach. Ich glaube, alle anderen haben darüber auch nicht nachgedacht. Eine Familie zu sein, war einfach gegeben.
Die Zeiten mit der Familie waren nicht immer harmonisch, ganz im Gegenteil. Kamen alle zusammen, ging es nicht nur heiter zu. Es wurde auch diskutiert, heiß gestritten und – je nach Alkoholpegel (leider) auch böse gezankt. Dennoch kam man wieder zusammen, sobald der Rauch der Schlacht verflogen war.
Man brauchte einander auch. Als beispielsweise mein Großvater mit seinen damals 67 oder 68 Jahren aufs Eis ging und wie der junge Jan Hoffmann (Welt- und Europameister im Eiskunstlaufen) über die glatte Fläche düste, ausrutschte und von einer anderen Eisläuferin mit deren Schlittschuh am Kopf „gerammt“ wurde … tja, da musste nach Koma und Klinikaufenthalt Betreuung her. So kümmerten sich wechselweise meine Mutter und meine Tante um ihn. Hilfe war selbstverständlich. Dafür wurden eigene Bedürfnisse vorübergehend zurückgestellt, Kompromisse bei der Unterbringung gemacht (mein Opa schlief auf der einen Seite des Ehebettes meiner Eltern, die teilten sich die andere Hälfte), und mein Großvater konnte allmählich gesunden im Kreis der Familie.
Man brauchte einander auch, um über Abwesende zu lästern. Etwas, das mich, als ich begriff, was die da taten, immer gestört hat. Wieso dürfen die das, dachte ich. Warum reden die nicht mit demjenigen? Da war ich etwa 11 oder 12 Jahre alt. Doch so ist das vermutlich in allen Familien, erkannte ich und erhielt ich auf Nachfragen auch als Antwort. Das sei normal. – Ich bin immer noch anderer Ansicht.
Meine Erinnerungen sind voll von Familientreffen, die ganz spontan stattfanden. Es reichte ein kurzer Anruf an einem Sonntagmorgen, schon packte meine Mutter das vorbereitete Essen ein, wir stiegen ins Auto und fuhren 50 km zu meiner Tante. Da „schmissen“ wir die Mahlzeiten zusammen und tafelten mit „alle Mann“ (wir waren dann zu zehnt) gemütlich am Tisch. Schwatzten und scherzten, hatten gute Stimmung.
Später, als ich selbst erwachsen war, funktionierte das auch noch. Stand irgendwas an, wobei Hilfe benötigt wurde, war immer jemand zur Stelle. Man musste nicht lange bitten.
Vorbei
Lange her!
Heute höre ich von meiner Tochter häufiger den Satz: „Mama, das waren andere Zeiten, das ist über 30 Jahre her.“ Gemeint ist derzeit allerdings eher sowas wie Wohnungssuche, Hauskauf, Renovierung, Behördendschungel und vieles andere mehr. Und sie hat recht damit: Es hat sich alles verändert. Nicht zum Besseren, stelle ich immer häufiger fest. Denn gerade was Wohnung, Haus, Behörden angeht, war es vor 30 Jahren vergleichsweise einfacher; allerdings empfanden wir es damals auch kompliziert und aufwändig. Heutzutage kommt meist Verwirrung hinzu, weil – zumindest ist das meine eigene Erfahrung – die rechten Hände oft nicht wissen, was die linken so tun und Vorschriften, Regeln und Abläufe Widersprüchlichkeiten aufweisen (die es aufgrund von Vorschriften, Regeln etc. eigentlich ja gar nicht geben sollte).
Jedenfalls stehen Familienmitglieder heutzutage nicht annähernd so zueinander wie ich es von früher gewohnt war. Es mag einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung geschuldet sein, kann an den heute völlig veränderten Lebensbedingungen in Privat- und Berufsleben sowie den Umständen, wenn Kinder da sind und Verpflichtungen mit Schule und Kita hinzukommen, liegen. Menschen sind eingespannter denn je und ihre Tage und Wochen zeitlich vollkommen durchgetaktet, weil das Pensum anders nicht zu bewältigen wäre. Zeit für Beziehungspflege sowohl im Familien- und Freundeskreis, aber auch schon in der Paarbeziehung gibt es nur sehr begrenzt oder sogar überhaupt nicht mehr.
Desinteresse und Ignoranz
Als wäre Zeitmangel nicht schon schlimm genug, kommen diese beiden Aspekte noch erschwerend hinzu. Zugegeben, das ist eine subjektive Wahrnehmung meinerseits. Aber ich weiß, dass es auch anderen so ergeht. Und ich kann es nicht anders bezeichnen, wenn ein Bruder seinen Bruder nicht mehr sehen, nicht mehr mit ihm reden will. Wenn die dazugehörige Schwester beide zwar noch einlädt, aber meistens nur mit einem von beiden rechnen kann, weil immer der eine nicht kommt, wenn der andere zugegen ist. Inzwischen sorgt schon der Gedanke an diesen Zustand bei ihr für Atemnot aus lauter Kummer. Wenn selbst da, wo man miteinander redet, kein Interesse am Leben des anderen gezeigt wird und Unterhaltung nichts weiter ist als Smalltalk; wenn immer nur ein oder zwei dieser kleinen Familie nachfragen, interessiert sind am Dasein der anderen, immer nur eine dieser beiden zum Grillen, Kaffeetrinken, Zusammensein einladen, sich kümmern und unter allen Umständen auch zur Stelle sind, wenn Hilfe gebraucht wird – dann stimmt etwas gewaltig nicht.
Immer sind es nahezu dieselben Gründe:
„… man hat keine Zeit“,
„… die Kinder/das Kind“,
„… der Job, Termine …“
und – wie ich finde – ganz besonders blöd ist ein Argument wie dieses: „… 140 km Anfahrt? Das liegt ja nicht um die Ecke! Wie soll ich da …“ – Ausreden. Letztendlich sind es Rechtfertigungen. Meiner Meinung nach. Besser: meinem Empfinden nach, was ein Unterschied ist. Jedem Kann-nicht liegt ein Will-nicht zugrunde. Ausnahme: Abwesenheit, die beruflich oder privat durch Urlaub, Krankheit u. ä. bedingt ist.
Denen, die immer hilfsbereit zur Stelle sind, ist die Entfernung beispielsweise völlig egal. Klaglos setzen sie ihre Freizeit ein, und haben sie keine, schaffen sie die Zeitfenster, um Hilfe möglich zu machen (beispielsweise bei einer Renovierung, einem Umzug etc.) Das wird gerne angenommen, auch dankbar. Aber wenn die Hilfephase überstanden ist, wird der Einsatz, den diejenigen geleistet haben, in irgendeine Kiste mit Erinnerungen gestopft und gerät in Vergessenheit.
Dies auch zum Thema „Zeitmangel“, weshalb freundschaftliche und familiäre Beziehungen nicht gepflegt werden können … Zeit kann man nicht haben, nicht besitzen, man schafft sie sich. Organisation ist (fast) alles. Und für Ausnahmesituationen kann jeder die eigenen Bedürfnisse auch mal beiseite lassen.
Fühlen, geben und nehmen
Im speziellen (also subjektiven) Fall ist noch eine Menge mehr mit im Spiel, das ist mir klar. Es ist auch nicht so, dass die Beziehungsmissstände erst jetzt entstanden sind. Das Ganze hat eine Entwicklung über einige Jahre; und wer weiß, wo die Wurzeln liegen …?
Jetzt jedoch ist ein Maß erreicht, an dem mir endlich klar ist: Familie, wie ich sie noch kannte, gibt es so nicht gar mehr. Wahlfamilie ist nicht zuletzt deswegen ein Lebensmodell, das seit Jahren auf dem Vormarsch ist. Auch das ist nicht neu, dass einem gute, liebe Freunde oft näher sind als die Blutsverwandten. Ich selbst bin ein Beispiel dafür, denn ich bin der Ansicht, dass Blut nur physikalisch dicker ist als Wasser, meine Bindung an die Blutsverwandten hat sich über die Jahre aufgelöst. Bestimmte Gründe gibt es nicht. Ist es vielleicht normal? Teilweise schon, aber nicht grundsätzlich.
Wo (Ver-)Bindung nicht auch gefühlt wird, gibt es bald keine mehr. Auch das eine persönliche Erfahrung. Und dazu gehört eben, dass man aneinander interessiert ist, dass man teilhat und der/die andere/n auch teilhaben lässt. Wie ich in einem interessanten Artikel lesen konnte, der meine eigenen Erfahrungen bestätigt, ist es ziemlich häufig so, dass Beziehungen über viele Jahre komplett einseitig laufen. Geben und Nehmen im Ungleichgewicht. Die einen geben nur, die anderen nehmen nur. Das führt irgendwann zu Frust auf der Geberseite, macht schlimmstenfalls sogar krank.
Abwendung
Ich las heute Morgen, dass „niemand es verdient hat, um Aufmerksamkeit zu bitten“. Wenn also immer nur eine Hälfte einer Beziehung Aufmerksamkeit etc. für die andere hat, im Gegenzug jedoch selbst keine erfährt, wenn alle Versuche, mit Gesprächen und Änderung des eigenen Verhaltens zu keinem Erfolg führten (willst du das Verhalten anderer ändern, ändere dein eigenes), muss irgendwann Schluss sein. Denn in einer solchen Beziehung reibt man sich sonst völlig auf.
Daher kann ich sagen, dass es sinnlos ist, das Verhalten aller anderen einer Gemeinschaft ändern zu wollen, da die anderen sich nicht ändern werden. Letztlich schließt man dauernd irgendwelche Kompromisse, bringt Verständnis auf, wo gar keins mehr ist und sein sollte, und geht irgendwann zugrunde.
So bleibt Abwendung tatsächlich die einzige Möglichkeit, sich von Traurigkeit, Enttäuschung, Wut und Frust zu befreien, damit man seelisch und körperlich gesund bleibt. Mit der Abwendung von den Nehmern, dem Rückzug aus einer einseitig gelebten und ungesund gewordenen Verbindung. Und man trifft (endlich) eine klare Entscheidung, mit wem man seinen Lebensweg weiterhin beschreitet und mit wem nicht – auch wenn es um die sogenannte „Familie“ geht. Es tut trotzdem und erheblich weh.
Der Entscheidungsprozess ist ein langer, ein schmerzvoller und sehr traurig. Aber wenn man lange genug gelitten hat, drängt sich dieser Schritt mit Macht auf. Wie befreiend es jedoch ist, den Entschluss umzusetzen, erlebe ich gerade.
Familie, wie ich sie noch erlebte, ist anscheinend ausgestorben.
Wie einst die Dinosaurier 😔
Ich hab’s nur nicht bemerkt.
Foto von https://pixabay.com/de/users/u_uf78c121-19064744/
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Auch interessant in diesem Zusammenhang ist ein Beitrag von Gerald Hüther auf YouTube, in dem es um den liebevollen Umgang mit sich selbst geht. Gut 8 Minuten, die sich lohnen …