Opfer unserer Selbst

Früher war’s …

Eine Erinnerung

Ich bin 11 oder 12 Jahre alt und sitze am Tisch im Wohnzimmer. Das ist so einer, den wir hochkurbeln können, wenn die Großeltern uns besuchen und wir uns alle um die Kaffeetafel herum auf dem Sofa und den Sesseln sitzend zum gemütlichen Plausch einfinden. Wenn ich auf einem der Sessel sitze hat dieser Tisch genau die richtige Höhe, damit ich den Arm beim Schreiben entspannt auflegen kann. Eilig huscht meine Feder über das hübsche Briefpapier. Ich schreibe einen Brief in englischer Sprache an meine Brieffreundin Kaye in Hull (England). Der Brief, den sie mir ein paar Tage zuvor geschickt hat, liegt neben mir, damit ich immer nachlesen kann, worauf ich mich mit meiner Antwort beziehen möchte. Sie schreibt übrigens in Deutsch; das war der ursprüngliche Zweck der Brieffreundschaft: gemeinsames Lernen. Als fast vier Seiten vollgeschrieben sind und ich meine lieben Grüße an sie unter den Text gesetzt habe, lehne ich mich zufrieden zurück. Kurz danach beschrifte ich den Briefumschlag mit der Anschrift vorn und meiner Absenderadresse hinten, klebe die notwendigen Briefmarken auf und trage den Umschlag wie einen Schatz zum Briefkasten …

Niemals ist einer dieser Briefe verloren gegangen. Keiner von jenen ungezählten nach Großbritannien und auch keiner von den anderen, die ich ins Sauerland an eine weitere Brieffreundin versandte oder nach Neviges (gehört heute zu Velbert) und in ein Dorf namens Reinsdorf (damals DDR) schickte.
Ich glaube, niemand machte sich Gedanken darum, dass Briefe wie auch Pakete beim Empfänger nicht ankommen könnten, oder nur sehr selten. Und obwohl es bestimmt mal vorkam, vertraute man der Post und ihren Mitarbeitern, dass sie ihre Aufgabe verantwortungsbewusst und gewissenhaft erledigen würden.
Wir warteten einfach ab. Mal geruhsam, vermutlich auch mal ungeduldig und gespannt, sehr wahrscheinlich (fast) immer neugierig … aber letztlich warteten wir. Keine Eile, kein Stress.
Gute alte Zeit. Oder?

Gegenwart

Post zu versenden ist, wie vieles andere auch, heutzutage häufig purer Stress.
Äußerst selten wird noch ein Brief mit der Hand geschrieben. Ich fürchte, der Mensch verlernt das Schreiben von Hand in den nächsten … Jahren. Dabei ist es für unser Gehirn sehr wichtig. Aber heute steht im Vordergrund, dass alles schnell geht. Ein Brief muss schleunigst in den Kasten, und schwupp! soll er am nächsten Morgen beim Empfänger sein. Und wehe nicht!!! Die Post hat’s ja versprochen …

Ich erlebe das gerade hautnah, allerdings mit einem Paket. Vor vier Tagen lieferte ich das gut verpackte, wertvolle Gut im großen Karton in der Postfiliale ab, und natürlich (?) schaue auch ich nach zwei Tagen mal in die Sendungsverfolgung. Schließlich ist der Inhalt der Sendung kostbar, ich will vor allem, dass sie sicher ankommt. Aber bis heute hat sich der Sendungsstatus nicht verändert. Ich bin beunruhigt. Wieso hat das Paket die Filiale noch nicht verlassen? ALARM!!!
Auf Anfragen beim Filialmitarbeiter erhalte ich zur Antwort, dass „schon mal vergessen wird, ein Paket beim Eintreffen in einer Umladestation zu scannen“ … Aha, aber wie sinnvoll ist dann eine Sendungsverfolgung? Tja, mhm! Dazu konnte mir der nette Herr auch nix weiter sagen als: „Anrufen und reklamieren!“
So, na schön! Dann wollen wir doch mal gucken, meine Damen und Herren, was ihr mit meiner kostbaren Fracht angestellt habt – anstatt sie 1–2 Werktage nach Einlieferung beim Empfänger abzugeben, denke ich. Ihr merkt, es grummelte in mir bereits Unmut.
„Das Paket hängt … irgendwo … Verzögerung …“, höre ich am Telefon. „Abwarten bis zu 5 Werktage …“
Hilflos fühlte ich mich, aber so what? Warte ich also.
Aber ich spüre den wachsenden Stress. Warum reden sie von 1–2 Werktagen, wenn sie es nicht einhalten? Ich will, dass das funktioniert, verflixt noch eins. Schließlich hat der Empfänger sogar schon 2 x daran erinnert, dass er auf das Paket wartet.

Woher dieser Stress?

1. Die Erwartungshaltung – die ist hoch, weil
2. die Möglichkeiten wie Versprechen propagiert werden und
3. die Kontroll-Optionen verfügbar sind.
Wenn es da nun irgendwo hakt, gerät man in Stress.
Es hebe bitte die Hand, wem das noch nie passiert ist.

Ich denke darüber nach und lehne mich aufgrund einer Erkenntnis zurück. Es hat keinen Zweck, sich aufzuregen, weil 3. nicht die gewünschte Auskunft liefert, denn es hakt. Es bringt nichts, die Verantwortlichen zu beschimpfen, sie anzuklagen oder zu bejammern, weil 2. die Versprechen nicht eingehalten werden; und dabei ist es oft schlicht nicht möglich, sie einzuhalten. Und dann ist es vor allem Punkt 1, der dafür sorgt, dass ich in eine Stressspirale komme. Die Erwartungshaltung.
Das kratzt am Vertrauen, das ich früher in die Institution der Post hatte. Damals versprach sie nichts, soweit ich weiß. Eine Erwartung entstand gar nicht oder nur in sehr geringem Maße. Briefe und Pakete waren innerhalb einer Woche beim Empfänger; nach England konnten auch mal 8 bis 10 Tage draus werden. Gestört hat das niemanden. Und was wirklich eilig war, verschickte man per Express. Ob das von einem auf den nächsten Tag ankam, entzieht sich meiner Kenntnis, denn ich habe niemals einen Expressbrief versandt.
Wenn einem aber etwas versprochen wird, erwartet man automatisch, und wie ich finde mit Recht, dass die Erwartung erfüllt wird.

Fortschritt oder nicht?

Fortschritt ist nicht grundsätzlich zu verteufeln. In vielen Bereichen ist er uns Menschen dienlich. Aber ich stelle immer öfter fest, dass die Grenzen manchen Fortschritts definitiv erreicht sind. Ich glaube, ich schrieb es schon in einem anderen Beitrag, dass es bedeutend schwieriger und herausfordernder ist, einen bestimmten Standard zu erhalten. Ein Haus zu bauen ist z. B. eine solche Herausforderung und es ist fein, wenn das Werk vollbracht ist; dann alles zu pflegen und instand zu halten, damit es auch nach 50 Jahren noch fein ist, fordert den Eigentümer in seiner Achtsamkeit, seinem Pflichtbewusstsein, der Verantwortung und seiner Liebe zum Ganzen.
Leider leben wir heutzutage in einer Gesellschaft, die die Philosophie des Wegwerfens pflegt. Warum pflegen, wenn Ersatz so Geiz-ist-geil-billig zu haben ist? Ein Haus ist jedoch kein Wegwerfartikel. Ebenso wie ein Service, den Menschen für uns erbringen. Hier gilt es, erkämpfte Standards zu erhalten! Wie der Hauseigentümer sein Haus pflegt, muss eine Institution bzw. ein Unternehmen (wie die Post) sowohl ihre Dienstleistungen wie auch das Personal, das sie ausübt, pflegen. Indem sie aber die Angebote für die Abnehmer/Nutzer der Dienstleistungen im Schnell-schneller-am schnellsten-Wahnsinn kreiert und dabei im Preiskrieg mit Mitbewerbern immer günstiger sein will, was letztlich zu Lasten ihres Personals geht (billig-billiger-am billigsten bis taugt nix), können sie auf Dauer nur scheitern.

… gar nicht so schlecht

– also, was ich an der alten Zeit gut fand, ist neben manch anderem die Geruhsamkeit, mit der ich Dinge abwarten konnte, wie beispielsweise das Eintreffen eines Briefes. Kontrolle gleich welcher Art wäre mir nicht mal in den Sinn gekommen.
Grenzen des Fortschritts sind für mich spätestens da erreicht, wo es meinem Wohlbefinden schadet. Und Stress schadet in hohem Maße. Deshalb mache ich an dieser Grenze nun kehrt.
Belächelt mich, haltet mich für altmodisch, aber ich werde Briefe mal wieder von Hand schreiben und keine Sendungsverfolgung mehr nutzen. – Zeitgewinn! Ruhe gesichert! Und ich lasse mich nicht verunsichern – Punkt.
Wenn ich schreibe, dass wir Opfer unserer Selbst sind, wird ganz klar, dass wir allein es in der Hand haben, beispielsweise für Geruhsamkeit im Leben zu sorgen. Um beim Beispiel der Post zu bleiben: Sie weckt mit ihren Versprechen und den Möglichkeiten zur Kontrolle eine Erwartungshaltung und auch Machtgefühl in uns. Wird die Erwartung nicht erfüllt, ärgert uns das, macht manchen gar wütend und aggressiv. Gleichzeitig sind wir abgelenkt von den wirklich wichtigen, ja essentiellen Dingen, die uns guttun.
Diese Mechanismen finden in vielen, wenn nicht allen Bereichen unseres Lebens statt. Es ist höchste Zeit, dass wir das klar und vollbewusst erkennen und: ÄNDERN.
Der Fortschritt durch die Digitalisierung (und es wird ja noch schlimmer werden in Zukunft) beschäftigt die Menschen zunehmend (irgendwann ausschließlich?) mit ihren i- und Smartphones, ihren Tablets und iPads, fokussiert sie auf immer kleinere Ausschnitte unserer großen, wahrhaft weiten Welt.
Was das aus Dauer mit dem Hirn anstellt …
Was das mit dem Denken und Fühlen macht …
Was wird aus dem Wunder der Schöpfung, dem Menschen als solchem???

Also ich mache da zunehmend nicht mehr mit.

Foto von PeterHauschild

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